Vor kurzem wurde das neue Positionspapier der Vereinigung der amerikanischen Kinderärzte AAP zu weiblicher Genitalverstümmelung publiziert.

Diese neue Version enthält merkwürdige Relativierungen, die im Vergleich zu dem AAP-Positionspapier von 1999 eine Verschlechterung des Schutzes von Mädchen mit sich bringen.

Was bezwecken die amerikanischen Kinderärzte damit?

  • Generell empfiehlt die AAP statt der “wertenden” Bezeichnung weibliche Genitalverstümmelung (female genital mutilation, FGM) den “neutralen, beschreibenden” Begriff female genital cutting (FGC), also etwa weibliche Genitalschnittpraktiken.
  • Die Erklärung, dass die AAP “sich allen Formen von FGM entgegenstellt” wurde in der neuen Fassung durch den Passus “alle Formen von FGC, die ein Risiko von körperlichem oder seelischem Schaden mit sich bringen” relativiert.
  • Die Empfehlung, dass die AAP-Mitglieder “aktiv versuchen sollen, Familien davon abzubringen, FGM zu praktizieren” wurde durch den Passus “schädliche Formen von FGC” relativiert.
  • Die Empfehlung, dass die AAP-Mitglieder “Patienten und ihre Eltern einfühlsam über die körperlichen Schäden und seelischen Risiken von FGM aufklären” sollen, wurde durch den Passus “und gleichzeitig sensibel für die kulturellen und religiösen Gründe bleiben, die Eltern dazu motivieren, diese Prozedur für ihre Töchter zu wollen” ergänzt.
  • Die Empfehlung, dass die AAP-Mitglieder “es ablehnen sollen, irgendeine medizinisch unnötige Prozedur durchzuführen, die die Genitalien von weiblichen Babys, Kindern und Heranwachsenden verändert” wurde ersatzlos gestrichen.

Natürlich handelt es sich nicht um einen rechtlich verbindlichen Text und jede Form von FGM ist in den USA nach wie vor strafbar, doch die AAP eröffnet ihren Mitgliedern und anderen Ärzten damit die Möglichkeit, ohne ethische Skrupel verhältnismäßig harmlose Formen von ritueller FGM an Minderjährigen durchzuführen, etwa symbolische Einschnitte oder Einstiche in die Klitoris oder die Entfernung der Klitorisvorhaut (Sunnah oder Mädchenbeschneidung i.e.S.). Offensichtlich mit der durchaus gut gemeinten – aber nichtsdestotrotz sehr umstrittenen und gerade von FGM-Opfern und -Aktivisten abgelehnten – Zielsetzung, Eltern mit einem geringfügigen Eingriff im steril-professionellen Umfeld zufriedenstellen zu können und somit zu vermeiden, dass das Mädchen im Herkunftsland unter unhygienischen Bedingungen einer gefährlicheren und radikaleren Prozedur unterzogen wird.

Sie öffnet aber auch plastischen Eingriffen an den Genitalien minderjähriger Mädchen Tür und Tor, wie sie bei erwachsenen Frauen in den USA bereits boomen. In Zukunft kann wohl eine Mutter ihre kleine Tochter zur OP bringen, damit diese niemals unter “zu langen” oder ungleichmäßigen Schamlippen leiden muss (womit seelische Schäden sogar vermeintlich verhindert würden).

Aber es kommt einem noch ein anderer Gedanke.

Der Druck der Intaktivismus-Bewegung, die sich für die genitale Unversehrtheit aller Kinder einsetzt, hat in den letzten Jahren zugenommen. Organisationen, Politik, Medien und Einzelpersonen geraten mehr und mehr unter verbalen Beschuss, wenn sie in Bezug auf die Beschneidung weiblicher und männlicher Minderjähriger die übliche heuchlerische Doppelmoral an den Tag legen: Selbst der kleinste Einstich ohne Gewebeverlust an Mädchen – laut AAP-Positionspapier vergleichbar dem Durchstechen der Ohrläppchen –  ist geächtet und steht unter Strafe, während die Vorhaut von Jungen zum Abschneiden aus beliebigen Gründen freigegeben ist.

Es wird immer deutlicher, dass diese Sichtweise auf Dauer juristisch nicht durchzuhalten sein wird. Die AAP räumt ausdrücklich ein, dass “manche Formen von FGC weniger umfassend sind als die männliche Neugeborenenbeschneidung, die im Westen üblich ist” und dass der elterlichen Entscheidung in Bezug auf die chirurgische Veränderung der Genitalien männlicher Kinder “Respekt entgegengebracht wird”.

Das neue Positionspapier könnte einen Ausweg aus dieser Sackgasse aufzeigen, nicht nur für die medizinische Ethik, sondern perspektivisch auch für den Gesetzgeber. Indem man “harmlose, unschädliche” Eingriffe an Mädchengenitalien legitimiert, muss man die – selbstverständlich ebenfalls “harmlose und unschädliche” – Entfernung der männlichen Vorhaut nicht mehr antasten.

Wenn diese Vermutung zutrifft, ist das neue Positionspapier ein beängstigend-beeindruckendes Zeugnis dafür, wie weit Gesellschaften zu gehen bereit sind, um die “Heilige Kuh” Jungenbeschneidung nicht schlachten zu müssen. Da gibt man offenbar lieber bestehenden Kinderschutz auf.

In Deutschland scheint man eine andere, verträglichere Lösung des Dilemmas gefunden zu haben: Hierzulande soll Mädchenbeschneidung als gesonderter Straftatbestand verankert werden, um sie separat von “normalen” Körperverletzungen behandeln zu können. Die Verfassungskonformität dieses Vorschlags ist anzuzweifeln. Was wird wohl deutschen Politikern einfallen, wenn sie feststellen, dass sie auf diese Weise nicht an den universellen Menschenrechten vorbeikommen?